Eurythmie

Der tanzende und der heilende Logos

Eurythmie ist eine Bewegunskunst, in der die menschliche Gestalt Instrument wird für lyrische, epische, dramatische Dichtung sowie für ältere und moderne klassische Musik. Gesetzmäßigkeiten von Sprache und Musik werden in ihrer Bedeutung, in ihrem Rhythmus fließend und dynamisch gestaltet. Jede Bewegung wird farbig empfunden, solistisch und in der Bewegung einer Gruppe. Die Bewegung zwischen den Tönen ist besonders wichtig, genau so wie der Raum zwischen den Eurythmisten.


Viel ist über die Eurythmie und ihrer therapeutischen Schwester, der Heileurythmie, noch nicht bekannt. Sollten Sie Ihr Kind an eine Waldorfschule oder in einen Waldorfkindergarten schicken, gehört sie allerdings zum „Inventar“, genau so wie in Anthroposophischen Kliniken die künstlerischen Felder dem Patienten als komplementärmedizinische Ergänzung begegnen können.
Mein Entschluss, die Eurythmie zu meinem Beruf zu machen, entstand zunächst aus dem inneren Wunsch, Bewegung, Gefühl und Wesen in „Einklang“ zu bringen. Künstlerisch kann ich mich mit den Kräften von Sprache und Musik verbinden, und diese lebendig-beseelt in ihren Rhythmen, Formen, Farben und Dynamiken durchdringen.
Die Vereinigung der Künste wie Architektur, Plastik, Malerei, Musik und Sprache in der Eurythmie faszinierte mich. Ich fühlte mich als junger Mensch in der Eurythmie einer Antwort und gleichzeitig einem Rätsel gegenüber zu treten. Einer Antwort, da ich in mir eine „Echtheit“ und Wahrheit in der Bewegung erlebte, die so viel mehr umfasst und ausdrücken kann als allein mein subjektives Gefühl. Einem Rätsel, weil ich den Eindruck hatte, alles, was mir in der Eurythmie begegnet, sehr gut zu kennen und es gleichzeitig noch nicht zu kennen. Vertraut und doch fremd, weil unermesslich groß erschien mir die Eurythmie.
Ich schreibe hier über die Eurythmie, um dieses Rätsel vor Sie hin zustellen, damit Sie sich fragen können: „Was ist Eurythmie?“ und vielleicht darauf eine erste Annäherung finden können.
Eurythmie ist eine noch junge Kunst, eine Bewegungskunst, die erst seit 1912 existent ist, mit großen Möglichkeiten für die Weiterentwicklung in die Zukunft hinein.
Das Instrument ist der Tänzer selber, der ganze Mensch, mit Körper, Seele und Geist. Die kulturellen Ahnen sind in der griechischen Kultur zu finden, auch in der ägyptischen. Den Bezug dazu stellt Rudolf Steiner (1861 bis 1925), der Begründer der Anthroposophie (Anthropos-Mensch, sophia-Weisheit) gleich zu Beginn ihrer Entwicklung her:
„…dass wir in der Eurythmie dasjenige erneuern, was in den uralten Mysterien Tempeltanz war: die Nachahmung des Sternenreigens, die Nachahmung desjenigen, was durch Götter vom Himmel herunter gesprochen wurde.“1*
Somit ist die Eurythmie zwar einerseits gegründet auf uralter Weisheit der Mysterienkunst, andererseits ist sie durch ihre in ihr selber sich befindende Spiritualität und Menschenerkenntnis ein hochmoderner Weg für den bewusst lebenden Menschen des 21. Jahrhunderts.
Die „Geburtsjahre“ der Eurythmie waren eine leuchtende Zeit. Inmitten der Umbrüche und Nöte des letzten Jahrhunderts erblühten die Künste. Neue Wege wurden von den Pionieren, die ihr Leben der Kunst widmeten, enthusiastisch beschritten.
Heute sehen sich die jungen Eurythmisten in der vierten Generation wieder in entscheidenden Auseinandersetzungen: Wie will sich die Eurythmie weiter entwickeln?
Letztlich ist die Antwort auf diese Frage nicht eine einheitliche, allgemein-gültige, sondern jeder, der Eurythmie macht, trägt zur Antwort bei. Eurythmie ist der Logos, das sprechende Wort meiner sprechenden Seele, der Tanz zwischen Himmel und Erde, vermittelnd…
Kann man ein Gedicht oder eine schöne Musik, Beethoven oder Arvo Pärt „tanzen?“ In Eurythmie ist das möglich. Natürlich muss das Kunstwerk dem Künstler zunächst vertraut werden. Seine Gesetzmäßigkeiten, seine Farben und Temperamente müssen erforscht und in eine adäquate „Form“ gebracht werden, damit es sprechen oder singen kann…
Es ist eine der schönsten Tätigkeiten, zu üben und entstehen zu sehen, was mit MIR als individuellem Menschen zutiefst zusammenhängt.
Denn JEDER Eurythmisierende, sei er alt oder jung, kann etwas von den „ewigen“ Gesetzen der Eurythmie objektiv, und doch einzigartig zur Erscheinung bringen. Dabei kann er erleben, wie getragen und durchatmet man von einem warmen Lebensstrom, einem Größeren Ganzen ist:
„Der Mensch als das schönste und vollendetste Werk Gottes, als sein Ebenbild und als eine Welt im Kleinen, hat einen vollkommeneren und harmonischeren Körperbau als alle übrigen Geschöpfe und enthält alle Zahlen, Maße und Gewichte, Bewegungen und Elemente, kurz alles, was zu seiner Vollendung gehört, in sich, und alles gelangt in ihm als dem erhabensten Meisterwerke zu einer Vollkommenheit, wie die übrigen zusammengesetzten Körper sie nicht besitzen,“ so Agrippa von Nettesheim (1486 bis 1535)*2.
Agrippa von Nettesheim hat den Menschen in sechs Positionen dargestellt, die für die eurythmische Bewegung von Bedeutung sind. Formen, die sich beim Übenden ganz leise metamorphosieren, das heißt von Stellung zu Stellung verändern.
Sie bewirken eine wache und doch meditative Haltung und Stimmung, sind ein guter Einstieg in die Eurythmiestunde und auch eine heilsame Übung, um die Seele zu harmonisieren. So erlebt man in dem umfassenden „Wesen“ der Eurythmie, dass nicht nur ein „A“ oder „B“, ein Ton „C“ oder „D“ tief Menschliches ausdrückt, sondern dass JEDE Bewegung-von Laut zu Laut, von Ton zu Ton-im Zwischenraum, von großer Bedeutung ist. Rudolf Steiner sagt zur „Technik“ der Eurythmie: „… wie sozusagen eurythmische Technik in Liebe zur Eurythmie eigentlich erworben werden soll, wie alles aus der Liebe heraus kommen soll.“*1
Auch in der therapeutischen Eurythmie, der Heileurythmie, die außer in Kliniken und Waldorfschulen auch in freien Praxen angewendet wird, steht der individuelle Mensch im Mittelpunkt. Ergreift der Patient die Übung, die er durch den Therapeuten kennen lernt und immer eigenständiger übt, kann sich eine Wendung oder Stärkung, eine neue Sicht auf das Leben ergeben. Die Erkrankung oder das „Problem“ fragt nach Sinnhaftigkeit und nach einer authentischen, integrativen Behandlung. „Wie Phönix aus der Asche“ kann der Heileurythmie- Übende aufsteigen und Mut gewinnen für den nächsten Schritt.
Die Behandlung bezieht den ganzen Menschen, seine Konstitution und Situation mit ein.
Therapeutisch werden die Übungen einerseits prophylaktisch angewendet, andererseits auch bei bereits bestehenden-auch chronischen–Erkrankungen. Wiederholungen, Rhythmen und kleine Pausen zwischen den Bewegungen vertiefen und verstärken die Wirkung. Auch wenn ein Patient liegen muss, kann die Heileurythmie hilfreich sein. Bewegungen müssen nicht immer groß sein, um etwas zu bewirken.
Die Kenntnis der 12 Sinne vermittelt einen ersten wichtigen Eindruck vom Patienten. Sei helfen bei der Wahl der passenden Übungen. Es geht zunächst um die vier „Leiborientierten Sinne“: der Tastsinn, der Lebenssinn, der Bewegungssinn sowie der Gleichgewichtssinn. Durch sie drückt sich ein gesundes, im „Rhythmus der Balance“ gelebtes Leben zwischen Innen und Außen, zwischen Tag und Nacht, lebendig atmend aus. Sie können den Weg zu einer menschengemäßen, heilsamen, zukunftsorientierten Therapie weisen!
In diesem Sinne bin ich nicht nur selber immer wieder von meinem Beruf begeistert- denn die Begeisterung kommt mir auch entgegen!
Rudolf Steiner hat viele Berufe zu Beginn des letzten Jahrhunderts erneuert, initiativ und umfassend erweitert und belebt durch die Erkenntnisse des Geistigen und wie dieses Geistige im Menschen lebt. Seine feinen Einsichten in die Zusammenhänge des Lebens kann jeder Mensch heute selber suchen und in sich finden. Als Bewegungskunst, die das Kosmisch-Lebendige stets zu neuem Leben erweckt, erfrischt die Eurythmie sozusagen „aus der Zukunft heraus“, denn das Reich der Eurythmie ist sprudelnd wie ein Quell. Die Schwerekräfte, der Tod sind schon überwunden! Dadurch ist die Eurythmie eine christliche Kunst, eine Menschen verbindende und den Menschen im Inneren stärkende Kraft.


*1Rudolf Steiner, Eurythmie als sichtbare Sprache
*2 Agrippa von Nettesheim, aus „De occulta Philosophia Libri Tres – 1533“


Autorin: Maria Ostermaier, geb. 1981
Dipl. Eurythmistin, Heileurythmistin
Praxis für Heileurythmie
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Dieser Aufsatz ist im April-Juni 2015 in "Die Kunst zu leben", dem südbayerinschen Anzeigenmagazin für Gesundheit, Kreativität und Lebensfreunde, erschienen.